Lesetipp: Die Reise unsere Gene – von Johannes Krause mit Thomas Trappe
Spätestens seit der ISW wissen wir, wie wertvoll und spannend interdisziplinäres Arbeiten ist. Doch irgendwann werden Sie die vielseitige Gymi-Ausbildung abschliessen und sich für eine Studienrichtung entscheiden. Sollte es Ihnen schwerfallen, sich auf eine Disziplin zu beschränken, dann habe ich beim Lesen die ultimative Studienrichung für Sie gefunden: Archäogenetik. Davon erzählt das Buch Die Reise unserer Gene.
Professor Johannes Krause, ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und des Max-Planck-Harvard-Forschungszentrums. Seine Arbeit besteht darin, die DNA aus uralten Menschenknochen zu extrahieren, zu sequenzieren und aus den Ergebnissen Schlüsse zu ziehen. Diese vergleicht er mit denen von Archäologen und Historikern, um dann die Menschheitsgeschichte des steinzeitlichen Europas neu zu erzählen. Er konnte zum Beispiel bestätigen, was Historiker schon lange wissen, nämlich, dass Europa zuerst von Neanderthalern besiedelt war, die später von modernen Menschen verdrängt wurden. Die ersten europäischen Homo sapiens ernährten sich als Jäger und Sammler und später kamen Einwanderer aus dem Osten, die das Wissen um die Landwirtschaft mitbrachten.
Was Krause nun aber neu zeigen konnte ist, dass diese Einwanderungwelle von Osten zweimal stattfand, nämlich zum ersten Mal vor rund 8000 Jahren und ein zweites Mal vor rund 5000 Jahren. Bei der zweiten Einwanderungswelle waren kaum Frauen dabei, sondern fast ausschliesslich Männer Diese haben ihre Gene so stark verbreitet, dass heute ein bedeutender Teil der europäischen Menschen von diesen Urvätern abstammen. Das alles erzählt der Autor sehr sachlich und überlässt es dem Leser, sich die Geschichten dazu auszumalen.
Sind Sie noch zu wenig von der Interdisziplinarität des Buches übezeugt? Ein Kapitel behandelt die Herkunft und die Verbreitung der indogermanischen Sprachfamilie in Europa. Diesmal werden die molekulargenetischen Daten mit linguistischen verglichen und altbekannte Hypothesen werden bestätigt, verworfen und ergänzt. Ein grosser Teil des Buches ist dem Thema Seuchen gewidmet (Das Buch ging 2019 in Druck). Krause und sein Team konnten zeigen, durch welche Krankheitserreger die Ureinwohner Amerikas nach der Kolonialisierung durch die Europäer dahingerafft wurden (es war nicht der Schnupfen, wie häufig kolportiert wird), und sie stellen die Hypothese auf, dass die Pest möglicherweise nicht über Ratten, sondern Pferde mit den Einwanderern vor 5000 Jahren nach Europa kam. Und dass diese Pferde nachher ausgestorben sind – wegen der Pest – und unsere heutigen Pferde aus europäischen Wildpferden neu gezüchtet wurden.
Abgerundet wird das Buch mit einem Kapitel über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Migration damals und heute. Dieses brandaktuelle Thema, dürfte besonders diejenigen interessieren, die an ein Studium der Sozialwissenschaften denken. Sie müssen sich nicht zwischen Gesellschaftswissenschaften, Sprachen und Naturwissenschaften entscheiden, wenn Sie sich für alles interessieren. Studieren Sie Archäogenetik. Eine neue Wissenschaft, die übrigens ganz undenkbar wäre ohne die Mitwirkung der Informatik.
April 2022, Sabin Rhiner