Lesetipp: Das Evangelium der Aale von Patrick Svensson
Kennen Sie das Gefühl, wenn man von einer Sache so sehr befremdet ist, dass sie schon wieder interessant wird? So ging es mir, als ich das Buch mit dem Titel Das Evangelium der Aale in der Hand hielt. Aale sind absolut nicht meine Lieblingstiere und das Wort Evangelium weckt verschiedene Assoziationen in mir, aber sicher keine, die mit Fischen zu tun haben.
Obwohl – Fische? Na ja, vielleicht doch; aber nicht Aale.
Trotz aller Zweifel beschloss ich, dem Buch eine Chance zu geben, und ich kann sagen: es hat sich gelohnt.
Der Autor Patrick Svensson berichtet sehr umfassend über den Aal: Wo man ihn findet, wie man ihn fängt und auf wie viele Arten man ihn zubereiten kann (gut, für die genauen Rezepte müsste man noch etwas googeln). Ferner macht er uns mit Forschern bekannt, die sich mit dem geheimnisvollen Tier beschäftigt haben, von Aristoteles über Siegmund Freund (ja, dem Freud), Rachel Carson (die mit «Der stumme Frühling» in den 1960er Jahren auf die Gefährdung der Biodiversität durch den Menschen aufmerksam machte) bis zu Johannes Schmidt, der zeigen konnte, dass sich die Aallarven aus der Sargassosee über den Atlantik nach Europa treiben lassen. Wir begegnen dem Aal in Literatur und Philosophie sowie in der Lebensgeschichte des Autors selbst, so dass wir schliesslich nicht mehr wissen, ob wir uns gerade in einem Sachbuch, einer Autobiographie oder einem Reisebericht befinden. Letzteres ist in einer Zeit, in der wir vermehrt zu Hause bleiben müssen, besonders verlockend, denn wir bekommen die Gelegenheit, von Griechenland und Südschweden über den Atlantik in die Sargassosee und zurück zu reisen. Gegen Ende des Buches werden wir mit Gedanken zum Artensterben konfrontiert. Haben Sie gewusst, dass eine Tierart nur dann auf die rote Liste der vom Aussterbenden bedrohten Arten kommt, wenn man ihren Bestand der geschlechtsreifen Tiere an ihrem Fortpflanzungsort misst? Wenn man nun nach der Lektüre von Svenssons Buch weiss, dass kein Mensch je einen geschlechtsreifen Aal in der Sargassosee, dem Ort, wo der europäische Aal mutmasslich laicht, gesehen hat, so gibt einem das doch einiges zu Denken. Nach rund 250 Seiten legte ich das Buch sehr inspiriert auf den Stapel gelesener Bücher. Ich weiss jetzt viel mehr über den Aal, als ich jemals wissen wollte und bereue keine Minute, die ich mit dieser Lektüre verbracht habe.
Oktober 2020, Sabin Rhiner